Leseprobe: Anna und … der Tote im Tunnel

Kapitel 1: Unter der Erde

MONTAG, 25.06.2018

Der Anruf am frühen Morgen kam Ludwig Anziffer ungelegen.

Er stand beim Bäcker, um sich seine Brotzeit zu holen und gerade hatte sich die ältere Dame vor ihm nach reiflicher Überlegung und ausführlicher Beratung durch die Verkäuferin für eine nicht zu helle und nicht zu dunkle Breze mit nicht zu viel und nicht zu wenig Salz entschieden. Die Verkäuferin hatte flink abkassiert und sich eben mit einem freundlichen Lächeln an ihn gewandt, als das Telefon klingelte. Er zog das Handy aus der Jackentasche und warf einen Blick auf das Display.

Der Heinz?

Soweit Anziffer wusste, war der Kollege vom Tiefbauamt momentan nur mit den routinemäßigen Wartungsarbeiten am Tunnel befasst, die zweimal im Jahr durchgeführt werden mussten. Der Anruf war also durchaus ungewöhnlich.

„Entschuldigen Sie ganz kurz“, wandte Anziffer sich an die Verkäuferin, trat einen Schritt zur Seite und ging ran. „Ich steh grad noch beim Bäcker, was ist denn?“

„Ich musste eben die Polizei anrufen. Wir haben … etwas gefunden. Im Stollen.“ Am anderen Ende der Leitung war ein schwaches Knistern zu hören, dem ein langgezogenes Ausatmen folgte.

„Rauchst du?!“

„Jo.“

Die Verkäuferin lächelte Anziffer aufmunternd an, aber der konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, was er hatte kaufen wollen. Matuschek war nicht nur ein Kollege, sondern auch ein langjähriger Freund und daher wusste Anziffer, dass der Heinz vor mehr als zwanzig Jahren von einen Tag auf den anderen das Kettenrauchen aufgegeben und seitdem keinen Glimmstängel mehr angefasst hatte.

„Eine Butterbreze vielleicht?“, wollte die Verkäuferin wissen, aber Anziffer schüttelte nur zerstreut den Kopf und wandte sich ab.

„Herrgott, Heinz, jetzt red halt! Was ist denn passiert?“

Knistern, Ausatmen. „Musst du dir selber anschauen. Am besten, du kommst zur Fortluftzentrale.“

Sprachs und legte auf – Himmel, Arsch und Zwirn!

Ungläubig starrte Anziffer abwechselnd auf sein Handy und auf die Verkäuferin, deren Lächeln angesichts des zweiten schwierigen Kunden zu so früher Stunde langsam bemüht wirkte. „Oder ein Kornspitz …?“

Wortlos drehte Anziffer sich um und stürmte aus der Bäckerei auf den Parkplatz. Einfach aufzulegen, mitten in einem dienstlichen Gespräch! Der Motor des Alfa GTV war noch kalt und jaulte empört auf, als Anziffer aufs Gas stieg und den Hagrain nach oben preschte. „Das hat man davon, wenn man nicht ständig den Chef raushängen lässt, am Ende ist man der Depp!“, erklärte er seinem Auto und ignorierte das Tempo-30-Schild am Straßenrand. Andererseits: Er kannte Heinz Matuschek wirklich schon lange und so ein Verhalten passte überhaupt nicht zu ihm.

Ob es wieder ein Rennen gegeben hatte? Nächtliche Autorennen waren ein Problem seit der Eröffnung des Tunnels im Jahr 1999. Offenbar war es vor allem jungen Männern und Führerscheinneulingen ein Bedürfnis, mir durchgetretenem Gaspedal durch eine vermeintlich leere Tunnelröhre zu rasen. Nicht immer ging das gut. Anziffer konnte sich noch gut an den letzten Unfall dieser Art erinnern, der erst ein paar Wochen zurücklag: Blaulicht, zwei Schrottautos, Feuerwehr, Notarzt – und ein Leichenwagen.Als der Blechhaufen, der einmal ein 5er-BMW gewesen war, auf den Abschlepper geladen wurde, hatte der Heinz neben ihm den Tunnel als „verdammtes Grab“ bezeichnet, aber das war natürlich Blödsinn. Tunnelunfälle waren tragisch – Anziffer bedauerte zutiefst den jungen Mann, der bei diesem letzten umgekommen war und fast noch mehr dessen sicher fassungslose Familie – aber sie waren erklärbar: Wer mit über hundert Sachen gegen eine massive Betonwand knallte, zog eben den Kürzeren, auch in einem großen BMW. Matuschek reagierte vermutlich nur deswegen so erschüttert, weil er selbst einen Sohn im Alter des Unfallopfers hatte.

Also: Wieder ein illegales Rennen? Aber dann hätte Matuschek ihn doch nicht zur Fortluftzentrale bestellt, oder? Und außerdem hatte er doch gesagt, sie hätten etwas im Stollen gefunden, also gar nicht im Tunnel selbst?

Unwillig schüttelte Anziffer den Kopf. Im Grunde war es egal, was genau passiert war. Als Leiter seiner Abteilung erwartete er von seinen Mitarbeitern, dass sie in Krisensituationen die Ruhe bewahrten und ihren Vorgesetzten zügig und umfassend informierten. So etwas wie eben durfte er sich nicht bieten lassen, auch und gerade nicht von seinem Stellvertreter! Noch als er den Alfa auf dem Hofbergparkplatz unmittelbar vor den drei Abluftkaminen mit quietschenden Reifen zum Stehen brachte, lag ihm als Begrüßung ein ordentlicher Anschiss auf der Zunge.

Aber Ludwig Anziffer war ein besserer Chef, als er selbst von sich dachte, und deswegen erkannte er beim Anblick seiner Kollegen intuitiv, dass hier tatsächlich etwas ganz und gar nicht in Ordnung war – und eine Standpauke nicht die Lösung des Problems. Heinz Matuschek lehnte an der Wand neben dem Eingang zur Fortluftzentrale, hatte immer noch (oder schon wieder) eine Zigarette in der Hand und war aschfahl im Gesicht. Erneut fragte Anziffer sich, was jemanden, der Mitte der Achtziger Jahre unter dramatischen Umständen aus der damaligen DDR geflogen war, derart aus der Fassung hatte bringen können. Der Azubi hockte daneben, seine Gesichtsfarbe tendierte eher ins Grünliche und er sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Anziffer knallte die Tür des Alfa zu und stapfte zu den Kollegen hinüber.

„Wehe, es ist nicht wichtig!“, begrüßte er Matuschek. Der warf mit einer fahrigen Handbewegung seine Zigarette weg.

„Die Polizei ist noch nicht da, die kommen über den Tunnel. Wir gehen schon mal vor.“ Dann wandte er sich um und verschwand ohne ein weiters Wort im Inneren der Fortluftzentrale. Anziffer schluckte seinen erneut aufkeimenden Ärger hinunter und unterdrückte den Impuls, ihm hinterherzulaufen wie ein folgsamer Hund. Betont gelassen wandte er sich stattdessen an den Azubi.

„Geht’s bei dir, Andi?“

Das kaum merkliche Nicken wirkte nicht sehr überzeugend. Eigentlich hatte Anziffer überlegt, einfach den Jungen zu fragen, was er gesehen hatte, entschied sich angesichts des Häufchens Elend, das da vor ihm auf dem Boden kauerte, aber dagegen. Er wandte sich um und betrat einigermaßen alarmiert die Fortluftzentrale.

Anders als die beiden Zuluftstationen am Portal Wittstraße und am Franziskanergarten diente die Fortluftstation ausschließlich dazu, die verbrauchte Luft aus dem Tunnel abzusaugen und zwar mit Hilfe der drei riesigen Ventilatoren mit einer Leistung von zusammen 225 Kubikmetern pro Sekunde, an denen Anziffer gerade vorbeimarschierte. Während sie gemeinsam die siebzig Meter des Schachtes Stufe für Stufe hinunterstiegen, berichtete Matuschek über den bisherigen Ablauf der Reinigungs- und Wartungsarbeiten und weil es Anziffer schien, als würde der Kollege durch die akribische Wiedergabe routinemäßiger Abläufe etwas zur Ruhe kommen, ließ er ihn trotz zunehmender Sorge und Ungeduld reden.

Als sie am Grund des Schachtes angekommen waren und Anziffer sich umwandte, erwartete er den gewohnten Anblick des vollkommen leeren Fortluftstollens, der von hier aus kerzengerade über 300 Meter in den Berg hineinführte und etwa in der Mitte des Tunnels endete. Stattdessen fiel sein Blick auf eine Szenerie, die ihn an Ort und Stelle festnagelte und nach Matuscheks Arm greifen ließ.

„Ein Kollege?“, flüsterte er, fest entschlossen, diesmal eine eindeutige Antwort einzufordern.

Der Schatten eines verzerrten Lächelns huschte über Matuscheks kalkweißes Gesicht. Dann schüttelte er beinahe unmerklich den Kopf und stapfte mechanisch auf den reglosen Körper zu, der keine hundert Meter entfernt auf dem Boden lag und nur notdürftig mit einer Plane abgedeckt war. Anziffer folgte ihm eher verwirrt als erleichtert. Was zum Teufel war hier passiert? Kein schiefgelaufenes Autorennen, soviel war klar, okay. Und laut Matuschek auch kein Arbeitsunfall, gut. Sehr gut sogar, denn dafür hätte er ja wohl die Verantwortung zu tragen gehabt.

Aber was dann? Ein Selbstmord? Oder …?

Die ausgeglichene Temperatur im Stollen erschien Anziffer mit einem Mal viel zu kühl, das helle Licht klinisch und das gleichmäßige Surren der Neonröhren beinahe bösartig. Am liebsten wäre er wieder nach oben geklettert, er sehnte sich nach warmem Licht, frischer Luft und sogar nach dem unschuldigen Gezwitscher der Vögel in den Bäumen, das ihm sonst so leicht auf die Nerven ging. Der Tunnel als Grab … diesmal konnte er den Gedanken nicht so einfach beiseite wischen. Dieser Ort tief unter der Erde, an dem Anziffer sich immer wohl und sicher gefühlt hatte, verströmte mit jedem Schritt mehr die kahle Sterilität einer Leichenhalle und zugleich die irrationale Bedrohlichkeit eines Albtraums.

Den beiden Kollegen, die Matuschek am Ort des Geschehens zurückgelassen hatte, erging es offenbar ähnlich. Auch sie sahen aus, als wären sie lieber woanders, drückten sich mit möglichst großem Abstand um die Leiche zu ihren Füßen. Eine männliche Leiche, wie Anziffer feststellte, als er selbst davorstand, denn an einer Stelle war die Plane etwas verrutscht und gab den Blick frei auf einen ziemlich behaarten Unterarm und eine große Hand mit kräftigen, aber gepflegten Fingern. Aus der Stellung des Armes meinte Anziffer schließen zu können, dass der Tote auf dem Bauch lag. Fragte sich nur, warum sich die Plane an der Stelle, wo sich der Rücken befinden musste, seltsam in die Höhe wölbte?

Erst als Matuschek sich vernehmlich räusperte, wurde Anziffer klar, dass er schon eine ganze Weile auf den Toten starrte. Unsicher blickte er in Richtung des Tunnels. Wo blieb nur die Polizei? Es war doch wohl kaum seine Aufgabe, einen Tatort zu inspizieren – durfte er das überhaupt? Andererseits interessierte ihn schon, ob er das Opfer möglicherweise kannte. Und die Kollegen erwarteten ganz offensichtlich eine Reaktion von ihrem Chef. Bevor er in die Hocke ging, warf er einen mahnenden Blick in die Runde.

„Wenn das ein schlechter Scherz ist, lass ich euch die verdammte Röhre mit der Zahnbürste zu Ende putzen!“

Das hatte er natürlich nur so dahingesagt, nicht zuletzt, um von dem Zittern seiner Hand abzulenken, während er die Plane zurückschlug. Denn längst war klar, dass sich hier niemand einen Spaß erlaubte. Vor Ludwig Anziffer lag ein Mann mit Glatze und Vollbart, zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, ziemlich groß und kräftig, aber nicht dick. Er lag tatsächlich auf dem Bauch, in seinem Rücken steckte ein Messer und in den blaugrauen Augen lag ein Hauch von Verwirrung, wie ein letztes Lebenszeichen, das endgültig zu erlöschen schien, noch während Anziffer hinsah.

„Wer ist das?“

Zu seinem Erstaunen antwortete Matuschek, als hätte er auf die Frage gewartet.

„Frank Lippmann, ein Freund von mir und ehemaliger Kollege. Wir waren schon zusammen hier, als der Tunnel gebaut wurde, er ist dann aber wieder zurück in den Osten. Vor ein paar Tagen stand er plötzlich bei mir auf der Matte und bat mich, ein paar Nächte bleiben zu dürfen, er hätte hier was zu erledigen.“

Das erklärte immerhin, warum der sonst so gelassene Heinz Matuschek derart schockiert wirkte, immerhin war ein Freund von ihm ermordet worden und zwar an seinem Arbeitsplatz – was nahtlos zur nächsten Frage führte.

„Wie ist er hier hereingekommen?“

Matuschek räusperte sich. „Ich fürchte … also, mit meinem Schlüssel. Jedenfalls war er heute Morgen nicht da, als ich zur Arbeit wollte. Der Schlüssel mein ich. Und Frank natürlich auch nicht …“

„Was wollte er denn hier?“ Anziffer kam sich fast vor wie bei einem Verhör, aber vielleicht war es doch besser, sie klärten ein paar Dinge, bevor die Polizei kam.

„Ich weiß es nicht, keine Ahnung, ehrlich! Dazu hat er nichts gesagt, er war überhaupt recht zugeknöpft, irgendwie.“

Als Anziffer sich wieder erhob, fiel sein Blick auf eine Spraydose am Boden und wanderte von dort zu einem roten Schriftzug an der Wand des Stollens, der ihm vorher gar nicht aufgefallen war, vermutlich weil er immer nur auf den Toten am Boden gestarrt hatte. Irritiert wandte er sich nochmal an seine Kollegen.

„Und das, wer soll das sein?“

Diesmal war allgemeines Schulterzucken die Antwort und noch während die vier Männer versuchten, sich einen Reim auf die Frage zu machen, warum das Opfer offenbar kurz vor seiner Ermordung mit einer Spraydose einen Namen an die Wand gesprüht hatte, flackerte von der Tunnelseite plötzlich blaues Licht durch den Stollen.

Die Polizei. Endlich.