Leseprobe: Ein Cowboyhut in Berlin

Fanny Frühmorgen stand auf dem Balkon ihrer Zweizimmerwohnung in Dresden–Neustadt und betrachtete die Christbäume am Himmel. Im Hof unter ihr hörte sie die eiligen Schritte und das ängstliche Gemurmel ihrer Nachbarn, die sich mit Sack und Pack Richtung Keller im Vorderhaus aufgemacht hatten. Die Petrasch-Kinder steckten noch in ihren Faschingskostümen: Simone wie immer Prinzessin, ihrem Bruder Werner hatten es eigentlich die Cowboys angetan, aber das war angesichts der politischen Lage im Deutschen Reich keine Option gewesen. Nach einigen hitzigen Diskussionen, deren unfreiwillige Zeugin Fanny, wie vermutlich alle anderen Bewohner des Hauses, geworden war, hatte seine Mutter wieder das Ritterkostüm herausgesucht. Mit erhobenem Schild und gezogenem Schwert drohte Ritter Werner nun den Christbäumen und allem, was sich sonst noch am Himmel über ihm zusammenbraute.

Es war nicht Weihnachten. Und die Christbäume am Himmel waren keine Symbole für den Frieden unter den Menschen, sondern Vorboten der Vernichtung. Ihnen würden die Zielmarkierer folgen – und diesen die Bomber.

Es war der 13. Februar 1945. Fastnacht.

Kehraus, wie die Bayern sagten und obwohl Fanny die Bedeutung dieses Begriffs bislang nicht recht aufgegangen war, hatte sie doch immer etwas Bedrohliches darin gefunden. In dem Wort schwang etwas Endgültiges mit. Als sie ihrer bayerischen Schwägerin einmal gesagt hatte, dass Kehraus sich ihrer Meinung nach weniger nach Karneval als nach dem Jüngsten Gericht anhörte, war ein herzliches Lachen die Antwort gewesen, in das Fanny schließlich eingefallen war. Aber damals hatten sie auch gut lachen gehabt, im Sommer 1936, am Chiemsee, bei strahlendem Sonnenschein.

Das Lachen würde dir vergehen, wenn du jetzt an meiner Stelle wärst, Martha.

Längst hätte sich Fanny selbst auf den Weg in den zum Luftschutzbunker ernannten Keller machen müssen, aber der Anblick der von den feindlichen Leuchtbomben geisterhaft erhellten Silhouette ihrer Heimatstadt hatte sie davon abgehalten. Sie hatte ihren Koffer, der seit Wochen mit den wichtigsten Papieren und Habseligkeiten bepackt in der Ecke gestanden hatte, wieder abgestellt und war auf den Balkon getreten. Es war ziemlich kalt, aber Fanny fror nicht, denn sie hatte mehre Lagen Kleider an – all ihre lange gehegten und nur zu ganz besonderen Anlässen getragenen Lieblingsstücke.

Für die Auswahl hatte sie sich Zeit gelassen. Als kurz vor 22 Uhr der Alarm losgegangen war, war sie in aller Seelenruhe aufgestanden, hatte den Deutschlandsender abgestellt und war ins Schlafzimmer gegangen. Dort hatte sie sich erst aus– und dann wieder angezogen: Als Erstes drei Paar von den guten Seidenstrümpfen, dann das dünne, hübsche Sommerkleid mit den gelben Blumen, darüber die elegante grüne Strickjacke, unten rum noch den dazu passenden warmen Wollrock, schließlich ihren blauen Wintermantel, ein edles Stück aus Kamelhaar mit pelzbesetztem Kragen, der Fanny damals fast ein Monatsgehalt gekostet hatte.

Derart ausstaffiert stand sie nun auf dem Balkon und erst jetzt, mit dem eiskalten Geländer zwischen den Fingern, dem Nebelhauch ihres Atems vor dem Gesicht und einem der bewegendsten Anblicke ihres Lebens vor Augen, traf sie die ganze Bedeutung des Moments wie ein Blitzschlag.

Diesmal war es tatsächlich so weit.

Kein Fehlalarm. Keine vorbeiziehenden Bomberverbände auf dem Weg zu irgendeiner anderen bemitleidenswerten Stadt, über der sie ihre tödliche Fracht abwarfen. Diesmal würde der Kelch nicht vorübergehen. Dresden war das Ziel und Dresden würde – dessen war sich Fanny sicher – in dieser Nacht untergehen. Nach dieser Nacht würde sie vermutlich nicht mehr ihr Eigen nennen als das, was sie anhatte – sofern sie noch am Leben war.

Kehraus.

Nicht, dass es nicht schon früher Angriffe gegeben hätte. Seitdem die Alliierten im Frühsommer des Vorjahres die Lufthoheit über Deutschland errungen hatten, war Dresden als einer der letzten funktionierenden Industrie– und Verkehrsknoten des Reiches schon mehrfach Gegenstand von Luftangriffen gewesen. Diese hatten sich allerdings auf den Bahnhof und Rüstungsbetriebe wie die Waffenfabrik Lehmann konzentriert, die Schäden waren entsprechend überschaubar geblieben. Während fast alle anderen Großstädte des Reiches nacheinander in Schutt und Asche versanken, fühlte man sich in Dresden sicher genug, um auf den Bau von Bunkern für die Bewohner und die immer weiter anschwellenden Flüchtlingsströme weitgehend zu verzichten. Woher diese Sicherheit kam, dass ausgerechnet Dresden verschont bleiben würde, konnte sich wohl niemand wirklich erklären, und so kursierten bald die absurdesten Gerüchte. Zum Beispiel jenes, wonach eine Tante Churchills am Weißen Hirsch wohne und von dort aus – freiwillig oder nicht – gewissermaßen wie ein Schutzschild für die Stadt fungiere.

Vielleicht ist sie ja doch noch umgezogen, die Tante, dachte Fanny sich, während sie zusah, wie am Himmel die hellen Leuchtkugeln von roten Zielmarkierern abgelöst wurden. Vielleicht hat sie ja einen Brief bekommen, von ihrem Neffen: „Verehrte, liebe Tante! Ich muss dich noch einmal mit allem gebotenen Nachdruck auf den Ernst der Lage aufmerksam machen. (…) Selbst einem Menschen, dem jeglicher Patriotismus so fremd ist wie dir, kann es doch nicht gleichgültig sein, immerhin ist es auch eine Stadt voller Nazis (…) Harris steigt mir langsam wirklich auf die Füße (…) Ich bitte dich also inständig, endlich zurückzukommen, wir haben das Gut in Yorkshire wunderbar für dich hergerichtet (…) Sei herzlich und eilig gegrüßt, Winston.

P.S.: Den Scherz mit der Erbtante finde ich keineswegs lustig, du weißt sehr wohl, wie viel mir an deiner Gesundheit liegt – für die ich allerdings nicht mehr länger garantieren kann!“

Während sie diesen Gedanken spann, musste Fanny kichern. Das war der Situation nun wirklich nicht angemessen, aber das war nichts Neues für Fanny. Schon als Kind hatte sie bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten kichern müssen und dafür so manche Ohrfeige kassiert. Heute musste sie zwar keine körperliche Züchtigung mehr fürchten, aber das Kichern geziemte sich schon grundsätzlich nicht mehr für eine Frau ihres Alters und weil sie es trotzdem nicht lassen konnte, hatte ihr das bei ihren Bekannten – auch den wohlmeinenden – den Ruf eingebracht, irgendwie „seltsam“ zu sein. Nun ja, diesmal konnte sie ja niemand hören, alles hatte sich schon in die Luftschutzkeller verkrochen.

Nur Fanny Frühmorgen stand noch auf ihrem Balkon und sog die letzten Eindrücke einer todgeweihten Stadt in sich auf.

Nach dem Abflauen des Vollalarms hatte sich eine beängstigende Ruhe wie ein Tuch über Dresden gelegt und aus dieser vollkommenen nächtlich–kalten Stille schälte sich nun ein leises Brummen. Zunächst sah Fanny gar nichts außer ein paar Wolkenfetzen, die eilig am Himmel vorüberzogen, als müssten auch sie sich noch schnell irgendwo verstecken. Wo Wolken sich wohl verstecken? Und vor wem? Aber sie wollte nicht schon wieder kichern, also konzentrierte sie sich auf das Geräusch, das ihr bedrohlich genug erschien, um einen weiteren unangemessenen Heiterkeitsanfall zu verhindern. Das dumpfe Brummen schwoll an, es wurde lauter und differenzierter, beinahe glaubte sie, einzelne Motorengeräusche herauszuhören und schließlich konnte sie auch etwas sehen: schwarze Punkte am Horizont, noch schwärzer als der ohnehin schon schwarze Hintergrund. Dutzende, vielleicht hunderte von Flugzeugen bewegten sich auf die Stadt zu in einer perfekten Formation, die Fanny an einen riesigen geschwungenen Flügel erinnerte – der schwarze Flügel eines Todesengels, der über die Stadt streifte.

Kehraus.

Während Fanny noch über die Ästhetik dieses Bildes nachdachte, fielen die ersten Bomben und im Innenhof stand plötzlich der Luftschutzwart der Nachbarschaft und brüllte zu ihr hinauf. In unmissverständlichen Worten und einer Lautstärke, die selbst noch das Pfeifen und Krachen der ersten Bomben übertönte, forderte er Fanny auf, sofort das Licht im Wohnzimmer zu löschen und sich in den Luftschutzraum zu begeben. Seufzend drehte Fanny sich um und begann den letzten Rundgang durch ihre Wohnung. Im Bad war die Wanne vorschriftsmäßig mit Löschwasser gefüllt, eine Anordnung des Luftschutzes, die der junge Lehmann gerne unangemeldet überprüfte. In der Küche sah Fanny nach – Macht der Gewohnheit! –, ob das Gas ausgedreht war. Nicht dass das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. Im Wohnzimmer verabschiedete sie sich von ihren liebgewonnenen Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit mit Michael: Von den vielen Fotos auf der Anrichte hatte nur ihr Hochzeitsfoto den Weg in den Koffer gefunden.

Als Fanny die Bilder aus fast fünf Jahrzehnten betrachtete und dabei ihren Gedanken nachhing, fiel ihr plötzlich etwas ein. Hatte sie nicht …? Einen Moment war sie unschlüssig, ob sie die Geduld des jungen Lehmann noch weiter strapazieren sollte, aber es half nichts, sie musste einfach nachsehen. Kurzerhand stellte sie den Koffer im Flur ab und eilte ins Schlafzimmer, wo sie zum zweiten Mal an diesem Abend den Kleiderschrank öffnete. Wenn, dann ganz hinten im obersten Fach. Der Stuhl, der sonst neben dem Bett stand und nur die wenigen Kleider tragen musste, die sie über Nacht dort ablegte, knarzte bedenklich, als Fanny ihm ihr ganzes Gewicht zumutete. Oder es sind meine Knochen, die da knarzen? Bevor sie darüber wieder kichern konnte, schlug eine Bombe in so unmittelbarer Nähe ein, dass die Scheiben in der Fassung wackelten. Vor Schreck wäre sie beinahe vom Stuhl gefallen, gerade noch rechtzeitig klammerte sie sich mit einer Hand am Regalboden fest – die andere lag auf ihrer Brust, wo ein stechender Schmerz ihr die Luft zum Atmen nahm. Leicht vorne übergebeugt wartete Fanny einige Sekunden, bis das Stechen nachließ, dann richtete sie sich auf und zwang sich zu ein paar ruhigen, tiefen Atemzügen.

So heftig war es noch nie. Einen Moment dachte sie darüber nach, ihre Aktion abzubrechen, dann schüttelte sie den Kopf und arbeitete sich systematisch und zügig durch die Schachteln, die fein säuberlich aufgereiht vor ihr standen.

Es waren fast ausschließlich Hutschachteln. Und ihr Inhalt erzählte die Lebensgeschichte von Franziska Elisabeth Frühmorgen.

Ein Kinder–Sonnenhütchen, rot mit bunten Blumen und einem Band für die Schleife unter dem Kinn: Fangenspielen im Baumschatten der Brühlschen Terrasse. Die zehnjährige Fanny entdeckt ihre Vorliebe für Kopfbedeckungen – und den Sohn der Nachbarn, die aus Bayern nach Dresden gezogen sind.

Ein edles Gesteck, cremeweiß, mit Samt und Perlen: Der erste Abend mit Michael in der Semperoper. Später wird sie es auch zur Hochzeit tragen, das junge Paar muss sparen.

Ein Florentiner–Hut, ausladend und üppig geschmückt mit Blumen und Obst über einem dicken Chiffon–Band: Die Frühmorgens in bescheidenem Wohlstand, auch Fanny hat darauf bestanden, weiter arbeiten zu gehen – zumindest bis … nun ja. Am zehnten Hochzeitstag ein Ausflug auf die Rennbahn.

Ein Charleston–Hütchen, schwarz, mit Brosche und einer kecken Feder an der Seite: Fanny allein auf nächtlichen Streifzügen durch die Prager Straße, aufreizende Musik, Gelächter und derbe Witze, dazu der Geruch nach Tabak und Alkohol. Eine Ehe auf der Kippe.

Ein Damen–Barett: Schlicht, elegant, rostbraun. Zurück in ruhigen Gewässern. Sehnsucht, Trauer und Wut haben sich abgesetzt auf dem Grund ihres Ehelebens. Unter einem dünnen Film Resignation. Und einer dicken Schicht Gelassenheit, Respekt und Liebe.

Schließlich kein Hut, sondern ein Kopftuch – weiche Seide, dezente Farben: Ein Geburtstagsgeschenk ihrer beiden Nichten. Durchaus angemessen, wenn man die Umstände bedachte (es war wieder Krieg) sowie Fannys Alter (sechzig damals) und ihren Stand (Witwe). Aber bevor Fanny Frühmorgen mit einem Kopftuch unter die Leute geht, müssen ihr erst mal sämtliche Haare ausfallen – und so weit ist es bislang Gott sei Dank nicht gekommen.

Als sie den Deckel der hintersten Schachtel anhob und einmal mehr hineinlugte in die staubige Abgestandenheit mehrerer Jahrzehnte, fand sie endlich, was sie suchte. Ihre Augen wurden erst groß und füllten sich dann mit Tränen.

Draußen wurde das Donnern und Krachen immer lauter, aber Fanny nahm sich trotzdem Zeit, ihr Fundstück noch im Koffer zu verstauen, denn der junge Lehmann brauchte auf keinen Fall zu sehen, was die alte Frühmorgen da in den Keller schleppte.

„Na, das wurde aber auch Zeit, vorwärts, vorwärts“, raunzte der Luftschutzwart und wedelte schon von weitem ungeduldig mit der Hand, als er Fanny mit ihrem Koffer über den Hof keuchen sah.