Leseprobe: „Anna und … der Brand der Burg Trausnitz“

1. Besuch im Beichtstuhl

Wieder da.
Dieselbe Kirche. Derselbe Beichtstuhl.
Der Platz des Priesters.

Ich schließe die Augen und lehne mich zurück, streiche mit der Hand über den roten Samt, atme den Geruch von altem Holz und Weihrauch.

Alles wie vor einem Jahr – nur dass der Franz jetzt selig ruht.

Oder auch unselig, säuselt die Alex.

Überrascht öffne ich die Augen.

Seit einer Woche bin ich jetzt Witwe. Bis zur Beerdigung am Freitag war so viel zu tun, dass ich gar nicht zum Nachdenken gekommen bin. Dann die Trauerfeier, die vielen Leute, alle haben auf mich eingeredet. Aber gestern Morgen bin ich aufgewacht mit dieser aufdringlichen Stille im Kopf. Verwirrt habe ich in mich hineingelauscht.

›Alex?‹

Nichts.

›Alexandra, sag doch was!‹

Nichts.

›Wahrscheinlich ist sie einfach nur beleidigt, wegen was auch immer‹, habe ich schließlich gedacht. Das wäre jedenfalls nicht das erste Mal.

Die Alex ist schon ziemlich lange bei mir. Seit der Sache mit dem Wilfried, genau genommen, da bin ich acht gewesen. Ja, kurz nach dem überraschenden und nicht ganz freiwilligen Ableben meines Stiefvaters ist da plötzlich diese Stimme in meinem Kopf gewesen – und nie wieder weggegangen. Irgendwann, vielleicht mit zwölf oder dreizehn, habe ich es aufgegeben, sie zu ignorieren oder zu verscheuchen und ihr stattdessen einen Namen gegeben: Alexandra. Weil das so exotisch klingt – jedenfalls nicht so schüchtern und brav wie Anna. Und bei der Kurzform Alex kann man sogar an einen Jungen denken, einen richtig frechen und draufgängerischen Kerl, der sich so schnell vor nichts fürchtet. Ein Spielgefährte und Beschützer, einer, der weiß, wo’s langgeht und ein ängstliches kleines Mädchen an die Hand nimmt. Wie der große Bruder, den ich nie gehabt habe.

So haben wir uns eingerichtet, miteinander, und obwohl wir uns ständig zanken wie einander lästige Geschwister, ist die Alex mir auch immer eine große Stütze gewesen im Leben. Allein den Franz hätte ich ohne sie nie so lange ausgehalten: seine Trunksucht, seinen Geiz, seine Verachtung. Immer ist es die Alex gewesen, die mich wieder aufgerichtet hat.

Und dann diese Funkstille nach dem Tod vom Franz.

Eine ganze Woche am Stück, das hat es fast noch nie gegeben. Dabei hätte ich gerade jetzt jemanden zum Reden gebraucht, nach allem, was passiert ist. Aber die Alex ist den ganzen gestrigen Samstag über stumm geblieben und auch heute Vormittag habe ich noch keinen Mucks von ihr gehört. Also habe ich mittags beschlossen, am Nachmittag zur Beichte zu gehen.

Gewissermaßen.

So ein Blödsinn, schnappt die Alex jetzt, was gibt´s denn da zu beichten? Es ist gekommen, wie es kommen musste!

Na ja, aber es ist doch nicht in Ordnung, wenn man – ‹

Papperlapapp, die cholerische Schnapsnase hat endlich bekommen, was sie verdient hat, und du gehst jetzt raus aus diesem düsteren Beichtstuhl und genießt den Rest deines Lebens – viel ist eh nicht mehr übrig davon!

Schlagartig verwandelt sich meine Erleichterung über die Rückmeldung der Alex in Ärger.

›Sei doch nicht immer so bös, du bist ja fast wie der Franz!‹

Nur, dass du mich nicht so leicht loswirst, hi, hi …

„Was heißt denn hier loswerden?“, brause ich auf und vergesse vor lauter Empörung, dass ich mir fest vorgenommen habe, niemals laut mit der Alex zu reden – was sollen denn die Leute denken? „Ausgerechnet du! Du hast doch auf den Franz geschimpft, seit wir uns gekannt haben, du hast doch –“

Ich bin jedenfalls von Anfang an dagegen gewesen, dass du den unterbelichteten Saufbruder auch noch heiratest! Das war doch vollkommen klar, dass der nur eine billige Putzfrau und Köchin sucht!

„Du redest dich wieder mal leicht! Aber von irgendwas muss man ja auch leben, zumindest wenn man ein Mensch aus Fleisch und Blut ist und sich nicht einfach nur im Kopf von jemand anderem eingenistet hat und den ganz Tag nix macht, außer gescheit daherzureden!“

Ja nun, schon gut, lassen wir das, lenkt die Alex ein, dann formuliere ich es eben anders: Es ist, wie es ist, der Franz ist unter der Erde. Für dich beginnt ein neuer Lebensabschnitt und den solltest du genießen! Darauf hast du doch ein Recht nach der ganzen Schufterei die letzten Jahre, oder?

Ja, das stimmt wohl“, seufze ich, doch dann setz ich mich kerzengerade hin.

Du Alex, stell dir vor, neulich hab ich auf dem Dachboden, in dem Karton mit meinen ganzen alten Sachen, doch tatsächlich die Rezepte-Sammlung von der Tante Zenta gefunden! Ich sag dir, da sind jede Menge Kuchenrezepte drin, die heute kein Mensch mehr kennt, die nehme ich mir die nächsten Tage mal vor, ich bin schon so gespannt!“

Na toll.

›Was ist denn jetzt schon wieder? Du hast doch gerade gesagt, ich soll endlich mein Leben genießen.‹

Ja, und damit hab ich nicht gemeint, dass wir wieder den ganzen Sommer in der schummrigen Küche stehen, während draußen das pralle Leben tobt! Warum kannst du dich nicht einfach mal in ein Café setzen, die Sonne genießen und Kuchen essen statt backen?

›Weil gekaufter Kuchen nicht schmeckt! Immer diese fertigen übersüßten Backmischungen, weißt du, wie viel künstliche Zusatzstoffe – ‹

Ein leises Knarzen reißt uns aus unserem Disput.

Jemand hat den Beichtstuhl betreten. Auf der rechten Seite.

›Oh, nein …!‹ Erschrocken schrumpfe ich in meinem Sitz zusammen.

Ah, ja! Endlich tut sich mal was. Ich nehme an, du weißt, wie man die Leute um ihre Sünden erleichtert?

Nichts weiß ich. Seit meine fromme Mutter mich nicht mehr zum Beichten getrieben hat, bin ich auch nicht mehr gegangen, und das ist jetzt mindestens … 65 Jahre her? Und überhaupt: Als Laie jemandem die Beichte abzunehmen, ist gewiss eine Sünde, das darf ich auf gar keinen Fall … nein, ich muss sofort raus aus diesem Beichtstuhl! Mich unbemerkt davonstehlen, wenn möglich, zur Not das Missverständnis aufklären!

Hastig stehe ich auf, klemme mir meine Handtasche unter den Arm und greife nach dem Türknauf, aber da fängt der Fremde auf der anderen Seite des Vorhangs an zu sprechen – und ich sinke entsetzt zurück auf die Bank.

Diese Stimme.

Was der Mensch gesagt hat, habe ich gar nicht verstanden.

Aber die Stimme!

Ein eigenartiger Singsang. Hoch. Blechern. Vollkommen unnatürlich. So etwas habe ich noch nie gehört. Ich könnte nicht mal sagen, ob da drüben ein Mann oder eine Frau sitzt.

Oder überhaupt ein Mensch?, haucht selbst die Alex ziemlich beeindruckt.

Gerade fass ich mir ein Herz, richte mich wieder auf, um auf zittrigen Knien aus dem Beichtstuhl zu pirschen, da geht auf der anderen Seite urplötzlich ein Geschrei los.

„Feuer! Burg! Burg brennt! Feuer!!“

Ich fange ebenfalls an zu schreien – was im Toben des Fremden vollkommen untergeht – und falle wieder zurück auf den Sitz.

Diese Stimme! Diese furchtbare Stimme!

Das Schreien nebenan dauert noch eine Weile, es ist immer nur von Burg und Feuer die Rede. Schließlich geht es in ein schweres Keuchen über, aber selbst dieses Geräusch klingt irgendwie künstlich. Als würde es jemand von einer uralten zerkratzten Schallplatte abspielen.

Der Schatten beugt sich näher an den Vorhang heran, ein eigenartiger Geruch schlägt mir entgegen, feucht und erdig. Ich lehne mich so weit wie möglich zurück, bis in die äußerste Ecke der Bank, aber dem Flüstern des Fremden kann ich nicht entkommen.

„Ich mach ihn kalt, am besten während der Hochzeit.“

Eine Morddrohung! Ich schlage die Hand vor den Mund, um nicht nochmal zu schreien. Was, wenn dieser unberechenbare Irre mitbekommt, dass nebenan kein an die Schweigepflicht gebundener Priester sitzt, sondern eine hilflose alte Frau? Soll ich doch auf die Alex hören und so tun, als sei ich der Pfarrer? Aber was sagt man denn da? Zumindest am Schluss von so einer Beichte muss man doch irgendwas sagen? So oft war ich als Kind in der Kirche, aber die Angst hat mein Gehirn leergefegt und noch während ich panisch nach einem klaren Gedanken suche, kommt der Schatten noch ein Stück näher an den Vorhang heran.

›Der wird doch nicht …?‹ Verzweifelt klammere ich mich an meine Handtasche, die muss ich zur Not als Waffe benutzen, ich habe ja sonst nichts. Oh Gott, warum bin ich nur –

Eine Falte des Vorhangs bewegt sich und jetzt kann ich nicht mehr anders, die Angst muss einfach raus: Mir entfährt ein luftloser Schrei, wie das verängstigte Fiepen eines Tieres hört es sich an und geht schließlich in ein leises Wimmern über.

Der Schatten hält kurz inne, lauscht, dann springt er auf, etwas scheppert, die Tür nebenan wird aufgerissen.

›Oh Gott, jetzt kommt er zu mir!‹

Ich glaube, ich werde ohnmächtig, in den Ohren habe ich plötzlich ein Pfeifen und Sausen. Aber die Schritte entfernen sich und Sekunden später höre ich das Schlagen der schweren Tür.

Allein.

Erst als das sakrale Echo in den hohen gotischen Gewölben verklungen ist, merke ich, dass ich die letzten Sekunden die Luft angehalten habe. Mein Herz hämmert wie wild gegen den Brustkorb, während ich gierig nach Luft schnappe. Meine Hände sind ganz rot, so fest habe ich damit die Handtasche umklammert.

Natürlich ist es die Alex, die als erste ihre Stimme wiederfindet.

Wow, macht sie.

„Oh Gott“, keuche ich.

Und ich dachte immer, du bist verrückt.

„Ohgottohgottohgott.“

Ob das öfter so abgeht, bei der Beichte?

„Oh Gott, Alex, was machen wir denn jetzt?!“

Wenn du ein Mann wärst, würde ich sagen, wir werden Priester – scheint nicht so langweilig zu sein, wie ich immer dachte. Und im richtigen Alter bist du auch.

„Hör doch auf mit deinen blöden Witzen! Der ist doch eindeutig verrückt, der will jemanden umbringen!“

Sowas soll’s geben.

„Alex, Kruzifix! Die Sache ist ernst!“

Das bringt sie endlich zum Schweigen – offenbar denkt sie nach und ich schöpfe Hoffnung. Wenn es hart auf hart gekommen ist, war auf die Alex noch immer Verlass, sie wird auch diesmal wissen, was jetzt am besten zu tun ist.

Du hast Recht, die Sache ist tatsächlich ernst, gibt sie schließlich zu und erleichtert atme ich auf.

Darum müssen wir uns unbedingt selbst kümmern!